Mein Leben war simpel, aber es war ein erfülltes und langes Leben. Kurz nach meinem 81 Geburtstag, starb ich an Lungenkrebs. Der zu Beginn fälschlicherweise, als eine behandelbare Lungenentzündung diagnostiziert wurde. Vielleicht waren die Zigaretten doch nicht so gut für mich gewesen. Sie waren aber... wie nennen es die jungen Menschen heute? Hipp? Cool? In? Naja, egal. Zigaretten waren damals populär und einmal begonnen, konnte oder wollte ich es auch nicht ablegen. Es gab keinen Grund. Ich war gesund, glücklich, aktiv und verheiratet. Ersteres änderte sich drei Jahre vor meinem Tod. Da lohnte es sich auch nicht mehr, das Rauchen aufzuhören.
Kurz vorm Ende war das Leben schwer und ungemein ermüdend. Meine Familie stand mir bei, vergossen Tränen und trauerten schon, bevor ich unter der Erde war.
Meine zwei Mädchen, die nun lange Erwachsen waren, weinten besonders viel. Helga und Ingrid waren beide Mitte 40. Sie besuchten mich zu Hause und begleiteten mich zur Chemo. Helga war zwar
verheiratet aber kinderlos. Manchmal zweifelte ich auch, dass ein Kind der sich bald endende Ehe gut tun würde. Ingrid hatte aus einer gescheiterten Ehe einen stolzen Trotzkopf gezeugt. Miguel,
mein einziges Enkelkind, war auch erwachsen. Er hatte einen Job in Berlin begonnen und war nur selten zu Besuch. Er versuchte die trauernden Mitglieder zum Lachen zu bringen. Wenn er da war,
alberte er herum, witzelte und spielte sogar mit mir Karten. In meinem Inneren wusste ich das Miguel mein einziges Enkelkind sein wird. Meine Erben würden nur durch ihn weiterleben. Ich hoffte,
dass er jemanden finden würde, eine Frau, die seine Neunmalklugen Sprüche etwas entgegensetzen würde.
Über meine Kinder und Miguel machte ich mir keine Sorgen. Ich hatte zwei starke Frauen zur Welt gebracht. Sie würden ihren eigenen Weg folgen, so wie sie es bisher getan haben. Miguel war jung.
Junge Menschen überstehen alles. Am meisten machte ich mir Sorgen über Karl, meinen Mann. Unsere Ehe währte nun so lang, dass ich mir gar nicht ausmalen konnte, wie es ohne ihn wäre. In den
Augenblicken, wo er mich in unserem gemeinsamen Heim umsorgte, wusste ich, dass er auch nicht wusste, wie es ohne mich wäre. Ich tätschelte seine Hand und sagte mit einer versagenden Stimme:
"Sei nicht traurig, mi amor." Tränen füllten seine Augen und er küsste meine Hand. Sein schrecklich aussehender Schnäuzer kratzte meine alte dünne Haut.
"Ich bin nicht traurig. Ich bin der glücklichste Mann der Welt gewesen. Nur weil du neben mir warst."
Ich gab ihm einen Klapps auf den Arm.
"Ich bin nicht unter der Erde."
"Ich bin...", verbesserte sich Karl schnell. "Ich werde dich bald im Himmel begleiten. So lang kann es nicht dauern."
"Folge mir nur nicht allzu schnell." Er nickte und gab mir ein stilles Versprechen. Ich wusste, dass mein Mann viel zu stur und viel zu stolz für Selbstmord wäre, also machte ich mir darüber
keine Sorgen. Ich machte mir Sorgen, wie er weiter machen würde. Wie er um sich selbst sorgen würde?
Über das letzte Jahr wurde ich schwächer und schwächer. Gehen, stehen, essen und mich selbst erleichtern wurde zu unüberwindbaren Hürden. Ohne Hilfe war ich buchstäblich hilflos. Was meinen Stolz
verletzte. Ich wurde so weit bemuttert, dass wenn Miguel zu Besuch war, vor meinen Augen, von mir in der dritten Person gesprochen wurde. Was ich brauchte. Was ich wollte. Was ich wahrscheinlich
sagen würde. Es brachte mich zur Weißglut. Streit um Streit wurde in meinen Namen ausgefochten. Bis ich selbst in meinem zittrigen Zustand die zwei Streithähne zur Vernunft brachte.
"Ihr beide kriegt gleich eine Wattsche, wenn ihr euch nicht auf der Stelle wieder einkriegt. Ich bin noch nicht unter der Erde!" Karl und Miguel drehten sich zu mir um und betrachteten mich verblüfft. Miguel brach ins schallende Gelächter aus.
"Ok, Oma Lotti. Ich benehme mich."
Mein Tod war recht einfach. Mein Körper gab den Kampf auf. Zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Ich hatte Karl gebeten mir aus meinem Sitz zu helfen. Die Position war unbequem und mein Körper schmerzte entsetzlich. Karl hob mich hoch und meine Muskeln erschlafften. Meine kaputte Lunge nahm nur noch drei Atemzüge auf und dann war ich tot. Ich verstarb am 27.02.1992 in den Armen meines lang geliebten Mannes.
Der Übergang vom Leben zum Tod brauchte nur einige Sekunden. Ich verlor alle Sinneseindrücke und jeden Gleichgewichtsinn. Ich schien nur noch zu existieren, in einer unbekannten Dunkelheit und Leere. Hoffentlich war dies nicht der Himmel, weil wenn das der Himmel war, dann wünschte ich dass Karl so lange, wie möglich lebte.
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