Ich sitze auf dem Dach der Schule. Mit den Knien gegen den Körper gepresst und mit verschleiertem Blick schaue ich hoch in den Himmel. Ich erkenne weiße Wolken, die sich in jede beliebige Form
verwandeln. Sie sind so weit weg. Abseits von dem Rest der Welt. Sie interessiert es nicht, wenn hier eine Bombe einschlagen und explodieren würde oder, wenn jemand mit einem Gewehr durch die
Gegend läuft. Ihnen würde es nichts ausmachen. Wolken würden immer noch Wolken sein.
Die Schulklingel klingelt zur Stunde. Ich werde aber nicht wieder zurückgehen. Nie wieder gehe ich in diese Höllenklasse.
Ich lege meinen Kopf auf die Knie und Tränen strömen mir unkontrolliert die Wangen hinunter. Was sollte ich nur tun?
Sofort meldete sich eine Stimme in meinem Kopf:
„Du kannst wegrennen. Einfach verschwinden. Hast du jemals an Selbstmord gedacht? Dann bist du frei. Du kannst aber auch wie dieser Junge mit einem Gewehr in die Schule kommen und es ihnen
Heimzahlen indem du sie...“ Ich schüttele den Kopf, damit die Stimme aufhört. Ich will nicht, dass mir mein Hass, meine Wut und Trauer solch schreckliche Gedanken einpflanzen. Klar, dass ich mich
für diese Blamierung und Diskriminierung rächen möchte, aber nicht so. Sie sollen nur genau das spüren, was ich dank ihnen empfinden muss. Mit gleicher Münze heimzahlen. Nicht mehr und nicht
Weniger. Ich will niemanden verletzten, ausschließlich mich. Was sage ich da? Wenn ich niemanden verletzten möchte, wie kann ich mich dann Rächen? Augenblicklich meldet sich wieder die Stimme in
meinem Kopf:
„Ganz einfach: Du bist ein Schwächling. Du möchtest niemanden verletzten, aber anstatt dich zu verteidigen, wirst du nur rumgeschupst, benutzt und gehänselt. Die einfachste Erklärung ist, dass du
schwach bist.“ Ich presse mir meine Hände auf die Ohren. Als ob das was helfen würde. Die Stimme redet weiter auf mich ein:
„Weichei, Mimose, Memme, Flasche, Hasenfuß, Angsthase, Schwächling...,“ weitere Tränen fließen meine Wangen hinunter. Ich will sie nicht mehr hören. Bitte, hör doch auf. „Du kleiner Scheißer, du
Dummkopf, Nichtskönner, Nichtsnutz...“
„Hör auf!“, höre ich mich knurren.
„Das ist jetzt genug deiner Kommentare.“ Augenblicklich verstummt die Stimme und lässt mich allein. Ich schließe meine Augen und presse meine Beine wieder an den Körper. Es stimmt aber. Alles, was sie sagte, ist wahr. Ich bin ein Angsthase, Nichtskönner, eine Flasche. Ich schlage meine Augen auf, und schaue in den Himmel. Die Wolken sind immer noch da. Aber sie interessieren sich nicht für die Menschen und erst recht nicht für mich. Keiner tut das. Ich stehe auf und blicke zum Dachrand. Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Vier Schritte. Nur vier Schritte, und ich kann das hier alles beenden. Vier Schritte, und ich wäre frei. Ich atme tief ein. EINS. Meine Eltern werden sich bestimmt sorgen, aber mir würde es dann besser gehen. ZWEI. Ich höre Vögel singen. Wie schön es doch ist. DREI. Nun laufen mir keine Tränen mehr die Wangen hinunter. VIER. ICH BIN FREI.